Wissenschaft und Forschung

Studie

2030 braucht der Verkehr in Europa 80 Millionen weniger Autos als heute

Der europäische Automobilmarkt wird sich bereits in wenigen Jahren gegenüber heute massiv verändern. Diesen Ausblick skizziert die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC in der neuen Studie "eascy - die fünf Dimensionen der automobilen Transformation", die zur diesjährigen IAA vorgestellt wird. Die Untersuchung kommt dabei zu einer ganzen Reihe von vermeintlich widersprüchlichen Aussagen zur Zukunft des Autos.
Straßenverkehr

Ein Beispiel: Der Fahrzeugbestand könnte bis 2030 um 80 Millionen auf nur noch 200 Millionen Autos sinken - während zugleich der Verkehr auf den Straßen noch dichter wird. Oder: Obwohl die Zahl der Neuzulassungen deutlich steigt, werden viele klassische Hersteller und Zulieferer unter Druck geraten.

2030 wird jeder dritte gefahrene Kilometer im "Sharing" gefahren

"Diese Aussichten sind nur scheinbarer widersprüchlich. Denn im Zuge der automobilen Revolution werden viele Regeln, an die sich die Branche über Jahrzehnte gewöhnt hat, in ganz andere Konstellationen geraten", sagt Felix Kuhnert, Global Automotive Leader von PwC. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das von PwC prognostizierte Wachstum preiswerter Sharing-Konzepte. Die Folge dieser Entwicklung: "Der heutige Normalfall, wonach die meisten Menschen selber in ihrem eigenen Fahrzeug fahren, wird in wenigen Jahren nur noch ein Mobilitätskonzept unter vielen sein", erläutert Christoph Stürmer, Global Lead Analyst von PwC Autofacts. So geht die PwC-Studie davon aus, dass 2030 bereits mehr als jeder dritte auf Europas Straßen gefahrene Kilometer auf einer der vielen Formen von "Sharing" beruhen wird.

Elektrische und selbstfahrende Autos beschleunigen den Wandel

Flankiert wird das "Sharing" von zwei technischen automobilen Megatrends - nämlich von der Elektrifizierung des Antriebs und von der inzwischen weit fortgeschrittenen Entwicklung selbstfahrender Autos. Laut PwC-Szenario dürfte es 2030 bei vier von zehn zurückgelegten Kilometern nicht mehr der Fahrer sein, der das Auto lenkt, sondern das Auto selbst. Bei 55 Prozent aller Neufahrzeuge könnte es sich zudem um Elektroautos handeln - während der klassische Verbrennungsmotor allmählich ausstirbt. "Die verschiedenen Trends verstärken sich dabei gegenseitig", sagt Stürmer. "Elektrofahrzeuge zum Beispiel können aufgrund des simpleren Antriebsstrangs weniger reparaturanfällig als herkömmliche Fahrzeuge werden - was bei einer intensiven Sharing-Nutzung ein deutlicher Vorteil ist. Selbstfahrende Autos wiederum könnten, wenn man sie mit Sharing-Konzepten verknüpft, zu regelrechten 'Robotaxis' werden."

"Der Straßenverkehr insgesamt muss sich radikal verändern"

In Kombination führen die unterschiedlichen Megatrends dazu, "dass sich der Straßenverkehr als solcher radikal verändern wird", so Stürmer. Konkret: Dadurch, dass immer mehr Menschen auf Car-Sharing-Modelle setzen, dürfte es bis 2030 zwar deutlich weniger Autobesitzer geben. Zugleich wird jedoch der Individualverkehr massiv zunehmen. Das liegt, abgesehen von der wachsenden Bevölkerung, zum Beispiel daran, dass autonome Fahrzeuge auch von Menschen genutzt werden, die heute selbst nicht Autofahren können. Ein weiterer Grund: Mit der Entwicklung vollautonomer Autos dürfte es auch zu Leerfahrten kommen, weil die "Robotaxis" ja von A nach B müssen, um neue Passagiere aufzunehmen. "Die Straßen werden definitiv noch voller werden", sagt Stürmer. Ein Chaos allerdings erwartet er nicht - im Gegenteil: "Durch die zunehmende Konnektivität wird sich der Individualverkehr in Zukunft sehr viel besser organisieren lassen." Folgerichtig nennt die PwC-Studie "Connected" als vierten Megatrend neben "Electrified", "Autonom" und "Shared".

Ein Drittel mehr Neuzulassungen bis 2024 - doch wer profitiert?

Doch was bedeutet die Entwicklung nun für die Hersteller und Zulieferer - gerade in Deutschland? Das PwC-Szenario geht davon aus, dass die Zahl der jährlichen Neuzulassungen in Europa bis 2030 um ein Drittel auf mehr als 24 Millionen Autos steigen könnte; nur so würde sich der höhere Verschleiß durch Car-Sharing-Konzepte kompensieren lassen. Diese hohen Volumen verlangen von Autoherstellern und Zulieferern die zusätzliche Investition in neue Produktions- und Entwicklungskapazitäten - für neue, hochspezialisierte Fahrzeugkonzepte zu wesentlich niedrigeren Preisen.

"Die Automobilkonzerne und ihre Zulieferer werden in den nächsten Jahren lebenswichtige Entscheidungen treffen müssen", glaubt PwC-Experte Stürmer. Denn während sie auf der einen Seite - vor allem wegen des Drucks der großen Flottenbetreiber - mit sinkenden Margen zu kämpfen haben, müssen sie auf der anderen Seite ihre Investitionen in neue Fabriken, Elektromobilität und die übrigen Megatrends signifikant steigern. Zugleich sehen neue Wettbewerber aus der Technologiebranche die Chance, in den Markt zu drängen. Dadurch könnte sich der Anteil klassischer Player an den globalen Branchengewinnen von derzeit 85 Prozent bis 2030 auf weniger als 50 Prozent verringern, schätzt eine parallel veröffentlichte Studie der PwC- Strategieberatung Strategy&. Stürmers Prognose lautet daher: "Dauerhaft überleben kann in diesem Szenario nur, wer sich entweder auf der Produktseite als klarer Innovationsführer behauptet - oder wer Mobilität eben nicht mehr nun als Produkt, sondern als Service versteht und seinen Kunden einfach zu nutzende, bequeme und günstige Angebote bietet - eben ihr Leben "eascy" macht."

Exponentielles Wachstum neuer Mobilitätsdienste schafft bis 2030 Marktvolumen von über 2 Billionen Euro weltweit

Die 2017 vorgestellten Automodelle zeigen deutlich, dass die Hersteller ihren Fokus endgültig auf autonome, vernetzte und elektrische Autos ausrichten. Schon 2025 werden Schätzungen zufolge 58% aller neu gekauften Autos in Europa, den USA und China elektrisch oder hybrid angetrieben sein. Bereits heute gelten dort über 85% aller Neuwagen als vernetzt, 2025 werden allein auf den Straßen Europas, der USA und Chinas über 470 Millionen vernetzte Fahrzeuge unterwegs sein. Die ersten "Roboterautos" (serienreife autonom fahrende Fahrzeuge) werden ab 2023 (Level 4) bzw. 2028 (Level 5) erwartet und bis 2030 sollen rund 80 Millionen davon in den genannten Regionen Teil des Straßenverkehrs sein - dies sind einige der zentralen Ergebnisse des "Digital Auto Reports 2017" von Strategy&, PwCs Strategieberatungsteam. Die Zukunft gehört der "Shared Mobility": Durch die vernetzten und autonom fahrenden Autos entsteht die sogenannte Roboconomy mit Mobilitätsangeboten und damit verbundenen autobezogenen digitalen Diensten. Für diese werden Kunden 2030 jährlich weltweit rund 2,2 Billionen Euro ausgeben.

"Connected Cars gehören bereits heute zum Straßenbild und elektrische sowie autonome Fahrzeuge stehen nur noch wenige Jahre vor ihrem endgültigen Durchbruch. Wir gehen davon aus, dass Elektroautos mit Blick auf die Gesamtkosten, bestehend aus Wertverlust, Treibstoff, Wartung, Steuern und Versicherung, zwischen 2025 und 2030 günstiger werden als Verbrenner-Modelle. Insbesondere aus dem Spannungsfeld von 'connected' und 'autonom' entwickelt sich in den kommenden Jahren für die gesamte Automobilbranche in Form digitaler Mobilitätsservices ein riesiger neuer Wirtschaftszweig", kommentiert Richard Viereckl, Managing Director bei Strategy& und Koautor der Studie.

Der Übergang zu "Mobility as a Service" beeinflusst mittelfristig sowohl die Wertschöpfungskette der Automobilbranche als auch das Mobilitätsverhalten der Kunden. Bis 2030 werden knapp 20% des Profit-Potenzials im Mobilitätsmarkt von "Mobility as a Service"-Dienstleistungen besetzt sein, was den Margendruck im Segment der klassischen Autoproduktion weiter erhöht. In Zukunft werden nur noch knapp 50% der Branchen-Wertschöpfung in der Autoproduktion bzw. im Autoverkauf erbracht werden - heute sind es noch rund 85%. Der restliche Anteil wird sich in den Bereichen "Flottenmanagement" und "Digitale Services" abspielen. Bis 2030 werden auf Europas Straßen bereits 36% aller gefahrenen Kilometer in geteilten und 42% in autonom fahrenden Autos zurückgelegt werden. Mit einem Anteil von 16% im eigenen autonomen Fahrzeug zurückgelegte Kilometer im Jahr 2030 haben die Europäer im internationalen Vergleich das größte Interesse daran, autonome Fahrzeuge privat zu besitzen (USA: 11%; China: 10%). Weil straßenbasierte Mobilität in der Zukunft leichter verfügbar und bequemer wird, wird die Zahl der gefahrenen Kilometer in den genannten Weltregionen im Vergleich zu 2017 bis 2030 um 23% steigen, doch gleichzeitig muss ein Durchschnittshaushalt rund 10% weniger für Mobilität ausgeben. Durch den raschen Aufbau von autonomen Auto-Flotten werden die Autohersteller zwischenzeitlich bis zu 28% mehr Neuwagen als aktuell verkaufen. Langfristig werden durch die geteilte Nutzung im Vergleich zu heute aber 25% weniger Autos auf den Straßen Europas und der USA sowie in anderen ausgewachsenen Märkten unterwegs sein.

Das Marktvolumen der geteilten Mobilität soll in Europa, den USA und China allein zwischen 2017 und 2030 jährlich um 24% auf 1,3 Milliarden Euro ansteigen. Bis 2030 werden ca. 33% aller Neufahrzeuge für geteilte Mobilität eingesetzt werden. "Der Übergang zu shared bzw. autonomen Flotten bedeutet einen massiven Umbruch für die Autobranche. Die Fahrzeuge werden zukünftig wesentlich intensiver genutzt, als das bei privaten Pkws aktuell der Fall ist. Durch den schnellen Wertverlust verlieren Geschäftszweige wie der Gebrauchtwagenhandel an Relevanz und die Hersteller werden auch verstärkt in regelmäßige Wartungsarbeiten an den Flotten eingebunden sein. Der Wettbewerb ist in Zukunft ein anderer: Über das Flottenmanagement, regional unterschiedliche Verkehrsregulierungen und Infrastruktur wird Mobilität zum lokalen Geschäft. Wir erwarten einen harten Wettbewerb auf Städte-Ebene mit signifikant niedrigeren Margen für die einzelnen Marktteilnehmer. Globale Marktführer oder die starke Dominanz eines einzelnen Mobilitätsmodells wird es angesichts der vielseitigen Mobilitätsbedürfnisse nicht geben", erläutert Alex Koster, Managing Director bei Strategy& und Koautor der Studie. Mittelfristig führt die starke Nachfrage nach autonomen Flotten auch zu einer Annäherung und parallelen Wettbewerbssituation von E-Commerce-Playern, Logistikunternehmen und Flottenbetreibern.

Mit Blick auf ihre zukünftige Rolle in der "Roboconomy" müssen sich Autohersteller entscheiden, ob sie Infrastruktur-Betreiber mit einem eigenen Endkundendienst sein möchten, eine Vermittlerrolle zwischen den Mobilitätsanbietern und den Endkunden einnehmen oder ob sie sich auf die heutigen Kernkompetenzen der Fahrzeugentwicklung und der Integrationsleistung eines Zulieferernetzwerks zurückziehen. Marktpotenziale bieten sich zum Beispiel über die Erweiterung der Funktionen oder die Verbesserung der Autos über digitale Technologien, die Herstellungs- oder Wartungskosten senken und den Customer Lifetime Value erhöhen. Langfristig wird es für die erfolgreichen Marktteilnehmer aber auch darum gehen, sich über die einzelnen Kategorien hinwegzusetzen und sich zu einem übergeordneten Hub für Dienste und E-Commerce zu entwickeln.

"Die Aktionäre erwarten eine klare Strategie, wie die Autohersteller die Transformation vom aktuellen Hybrid-Status in klar unterteilte Mobilitäts-Geschäftsbereiche angehen. Durch den künftig viel häufigeren und direkteren Kundenkontakt braucht die Autobranche nicht zuletzt im Bereich der Forschung eine wesentlich kundenzentriertere Herangehensweise und muss für die Entwicklung digitaler Dienste auf strategische Partnerschaften mit Technologieunternehmen setzen", schließt Alex Koster.

(Dienstag, 12.09.17 - 07:50 Uhr   -   3846 mal angesehen)

WERBUNG:

blog comments powered by Disqus
WERBUNG: